Donnerstag, 5. März 2015

Ein Blitz aus heiterem Himmel

Die nächsten Wochen verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Mittlerweile nahte der Sommer und im Garten meiner Vermieter trugen die Obstbäume schwer an ihren Früchten.
 
Eines Mittags an einem schönen Junitag saß ich gut gelaunt am offenen Küchenfenster und genoss die angenehme Sommerluft. Vor mir lag wieder ein Bogen Papier mit dem kleinen Tischchen obenauf. Ich hatte „Onkel Willi“ gerade etwas Belangloses gefragt, als sich das Tischchen zu bewegen begann und ich kurz darauf las: Gleich_kommt_der_Juergen_vorbei
   Ehrlich gesagt war ich über diese Nachricht schon etwas überrascht. Wir, also Jürgen, der schon erwähnte Freund und bekennende Atheist, und ich  waren nämlich nicht verabredet. Andererseits kam es aber durchaus vor, dass er mich spontan besuchte.  Das Tischchen bewegte sich erneut: Er_wird_heute_Nacht_sterben
   Ein Satz, der mich traf wie  ein Pfeil in die Brust oder wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich brach augenblicklich in Tränen aus und meinen Körper durchlief ein schluchzendes Beben. Aber da setzte sich das Tischchen schon wieder in Bewegung. Ich las weiter:
Du_ brauchst_ nicht_ traurig_ sein_ Er_ ist_ dann_ bei_ uns_ und_ du_ kannst_ morgen_ schon_ eine_ Partie_ Schach_ mit_ ihm_ spielen
  Diese Aussicht tröstete mich augenblicklich. Er bleibt also erreichbar, dachte ich, er hat dann nur die Seite gewechselt.
Sei_ ganz_ normal_ Geh_ mit_ ihm_ in_ den_ Garten_und_ lies_ ihm_ aus_ der_ Reise_ durch_ das_ Universum_ vor_ Nun_ beeil_dich_Er_ist
_gleich_da

Ich hatte gerade die „Utensilien“ wieder im Schrank verstaut, als es schellte. Jetzt wird es ernst! schoss es mir durch den Kopf. Ich atmete zweimal tief durch, dann ging ich zur Türe und drückte den Summer.
    Als ich die Türe öffnete stand tatsächlich Jürgen da und lächelte. „Na, wie geht`s?“ fragte er. „Ah, hallo, du bist`s!“, sagte ich so beiläufig wie möglich, „komm rein!“ Jetzt nur nichts anmerken lassen, befahl ich mir selber.
   Meine Verstellung funktionierte tadellos. Ich benahm mich so normal wie möglich und verbarg meine wahren Gefühle. Und tatsächlich schien er auch nicht den geringsten Verdacht zu schöpfen. Lediglich einmal, als ich ihm im Garten aus einem esoterischen Buch etwas vorlas, schien er irritiert: „Was sollte das denn jetzt? Warum hast du mir das denn jetzt vorgelesen?“
    In dem Abschnitt ging es darum, dass die Seele nach dem Tode eine Reise durch das Universum antreten würde. Ich konnte ihm ja jetzt nicht erzählen, dass die „Verwandten“ mich angewiesen hatten, ihm dies vorzulesen. Und so sagte ich nach einer kleinen Schrecksekunde wiederum scheinbar beiläufig: „Ach, ich dachte, dass es dich vielleicht interessieren würde!“
  Er lachte kurz auf: „Also ein für alle Male! Ich glaube an diesen ganzen Blödsinn nicht. Tot ist tot! Und damit basta! Danach kommt nichts mehr. Wir sind nur Materie, mehr nicht!“ Ich blickte leicht resigniert zur Seite und dachte: Bald wirst du es besser wissen, mein Lieber!

Wir verbrachten noch den Rest des Nachmittags im Garten, bevor wir dann zum "Griechen" im Nachbarstadtteil fuhren und eine Kleinigkeit aßen.  Nach dem Verlassen des Imbisses begleitete ich ihn noch zu seinem Wagen. Wir gaben uns die Hand und ich sagte: „Dann mach`s mal gut!“
  Ich schaute ihm noch nach, bis sein Wagen außer Sicht war. In diesem Leben werden wir uns nicht mehr sehen, dachte ich etwas schwermütig. Dann begab ich mich zu meinem Fahrrad und schloss es auf.

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