Freitag, 27. Februar 2015

Eine außergewöhnliche Erfahrung

Nach jenem Abend bei Michael veränderte sich mein Interesse und Alltag deutlich. Ich begann mich intensiv mit Astrologie und Tarot, theoretisch und praktisch, zu beschäftigen. Wobei ich in Kontakt mit Michael blieb, der mir den ein oder anderen Tipp gab und mich auch mit esoterischem Lesematerial versorgte.
    Der Übergang zwischen Interesse und Überzeugung ist oft fließend. Und so war es auch in meinem Fall. Nach einer Weile war ich von der Richtigkeit der esoterischen Dinge weitgehendst überzeugt und begann auch Anderen davon zu erzählen.
    Die staunten meist nicht schlecht über meine Begeisterung, ließen sich aber nicht davon „anstecken“. Dies war mir allerdings egal, denn ich wähnte mich Rätsel des Lebens auf die Spur gekommen zu sein. Ein neuer, verheißungsvoller Weg in die Zukunft hatte sich für mich unerwartet aufgetan.
    Hätte ich damals geahnt, wohin mich dieser Weg noch führen würde, hätte ich meine Beschäftigung mit jenen esoterischen Dingen sofort gestoppt. So aber nahm das Schicksal seinen Lauf  in Richtung eines verhängnisvollen Abgrunds.

In diese Zeit hinein fiel ein Besuch bei Elke und Peter, einem jungen Ehepaar. Ich hatte die Beiden im Jahr zuvor bei einem Schachturnier kennen gelernt und war von ihnen schon mehrfach eingeladen worden. Vielleicht aus Trägheit oder auch aus anderen Gründen hatte ich einen Besuch immer wieder aufgeschoben. Aber jetzt zu Beginn des Frühlings schwang ich mich auf mein Fahrrad und fuhr ans andere Ende der Stadt.
    Ich hatte Glück, denn Elke war zuhause und empfing mich freudig mit den Worten: „Das ist ja eine Überraschung! Komm rein! Der Peter kommt auch gleich nach Hause.“ Als jener tatsächlich wenig später eintraf, verbrachten wir einen unterhaltsamen und interessanten Abend miteinander. Einen Abend, der wie im Fluge verging, und an dem aus flüchtigen Bekannten Freunde wurden!
     Natürlich hatte ich irgendwann auch von meiner Beschäftigung mit den esoterischen Dingen zu erzählen begonnen und unterschiedliche Reaktionen erlebt. Während der  ruhige und besonnene Peter sich  etwas reserviert verhielt, schien die lebhafte Elke sehr interessiert zu sein. Plötzlich sagte sie: „Bleibst du über Nacht hier? Du könntest  im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen!“                                               
     Ich blickte Peter an, der zustimmend nickte. Ich nickte auch und sagte: „Ja, gerne!“ „Klasse!“, meinte Elke, „dann kann ich dir nämlich später noch etwas zeigen, was dich bestimmt interessieren wird!“ Und dabei lächelte sie mich recht geheimnisvoll an!

Etwa gegen 23 Uhr zog sich Peter ins Schlafzimmer zurück, da er am nächsten Morgen wieder früh aufstehen musste. Elke und ich blieben im Wohnzimmer sitzen, denn sie wollte mir ja noch "etwas" zeigen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, um was es sich handeln könnte.
   Elke stand auf,  ging zum Wohnzimmerschrank und holte einen großen Bogen Papier und ein kleines Tischchen daraus hervor. Dann breitete sie  den Bogen auf dem Esstisch aus und stellte das kleine Tischchen oben drauf. Lächelnd winkte sie mich herbei. Ich stand auf und ging zu ihr hinüber. Was würde jetzt passieren?
   Als wir nun wenig später  nebeneinander am Esstisch saßen, sah ich, dass an einem Bein des kleinen Tischchens ein leicht überstehender Bleistiftstummel mit der Spitze nach unten befestigt war.  „Und“, sagte ich, „was geschieht nun?“ Sie lachte und meinte: “Was hältst du davon, wenn wir mit meinem verstorbenen Onkel Kontakt aufnehmen?“
    Vermutlich werde ich in diesem Moment nicht gerade mein intelligentestes Gesicht gemacht haben. Ungläubig und gedehnt fragte ich nach: „Mit deinem verstorbenen Onkel Kontakt aufnehmen? Das soll funktionieren?“ Sie lachte erneut: „Ja, ganz sicher! Du wirst staunen! Also, bist du dabei?“ Meine Neugier war stärker als meine Skepsis und so nickte ich: "Ich bin dabei. "Gut", sagte sie, "dann lass uns beginnen!“

Eine halbe Stunde später war ich um eine seltsame Erfahrung reicher. Nach mehrmaligen Anrufen des „Onkels“ hatte sich plötzlich das kleine Tischchen in Bewegung gesetzt und auf dem Bogen Papier waren zwei deutlich lesbare Worte sichtbar geworden: Hallo_Elke!
   „Er ist da!“, hatte Elke jubelnd ausgerufen. „Siehst du, ich habe es dir doch gesagt!“ Und nun entspann sich zwischen Elke und ihrem „Onkel“ ein lebhaftes Frage- und Antwortspiel. Elke stellte Fragen in den Raum hinein und erhielt durchaus vernünftige und nachvollziehbare Antworten mittels des kleinen Tischchen auf dem Papierbogen.
   Während der ganzen Zeit saß ich gebannt neben ihr und verfolgte fasziniert dieses merkwürdige Geschehen. Hier geschah tatsächlich etwas, was mit den normalen Naturgesetzen ganz offensichtlich nicht in Einklang bringen zu war. Es hätte eigentlich nicht funktionieren dürfen.

Als wir schließlich die „Sitzung“ beendeten, lächelte Elke mich triumphierend an: „Und, ... was sagst du nun?“ Was hätte ich schon sagen sollen? Die Tatsachen sprachen für sich selber. Ich lächelte zurück und sagte anerkennend:„Ganz erstaunlich! Diese Überraschung ist dir wirklich gelungen!“    
    Ich war tief beeindruckt und hatte das Gefühl, dass ich Zeuge von etwas wirklich Außergewöhnlichem geworden zu sein. Für einen kurze Zeit hatte erlebt, dass die Grenzen unserer dreidimensionalen Welt überschreitbar waren. Wie hätte ich in diesem Moment auch ahnen sollen, dass ich soeben einen weiteren Riesenschritt in Richtung eines furchtbaren Abgrundes gemacht hatte!?  

Der Besuch im "Hexenhaus"


Die zufällige Begegnung mit Michael hatte mich zuversichtlich gestimmt. Hier schien sich etwas anzubahnen, von dem ich allerdings noch nicht sagen konnte, wohin es mich führen würde. Einige Tage später machte ich mich früh abends auf den Weg zum „Hexenhäuschen“. Und ich hatte Glück, denn Michael war tatsächlich zuhause.
    Von ihm in die Wohnung gebeten, konnte ich mich einer gewissen Verwunderung nicht erwehren. In einer großen Wohnstube mit integriertem Küchenbereich befanden sich nur ein Tisch, ein Sessel und ein Stuhl, einige Bücherregale und ein alter Kohleofen, der aber nicht einmal brannte.
   Er schien meinen prüfenden Blick zum Ofen hin mitbekommen zu haben, denn er begann sich sofort zu rechtfertigen: „Ich muss ein bisschen sparen. Den Ofen mache ihn nur an, wenn es richtig kalt draußen ist.“  Etwas irritiert fragte ich ihn: „Aber es ist Winter! Frierst du denn nicht manchmal?“
    „Ach,“ entgegnete er recht gelassen, „wenn es richtig kalt ist, ziehe ich mir einfach einen zweiten Pullover über. Und außerdem ist oben auch noch mein Bett, in das ich mich notfalls legen kann.“ Dann schaute er mich forschend an, und plötzlich lachte er: „Keine Angst, du brauchst heute Abend nicht zu frieren. Ich werde gleich mal den Ofen in Gang bringen!“

Wenig später saßen wir bei einer Tasse Kräutertee in der Nähe des nun brennenden Ofen. Michael hatte mir den bequemen Sessel überlassen und gegenüber auf dem Stuhl Platz genommen. Michael lächelte und sagte dann: „So, dann erzähl doch mal! Wie ist es dir denn in den letzten Jahren so ergangen?" 
     Ich lehnte mich in den Sessel zurück und begann in meinen Erinnerungen zu kramen.Dann erzählte ich ihm von meinen Erfolgen im Schach, einer gescheiterten Liebesbeziehung, ein bisschen von meinem doch eher ungeliebten Studium. Schließlich sagte ich: „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich im Moment gar nicht so recht, wie es weitergehen soll!“ Woraufhin wir beide erst einmal einen Moment schwiegen.
    Bevor die entstandene Stille dann doch zu peinlich werden konnte, griff ich nach meiner Tasse und sagte: “Und? Wie ist es dir ergangen? Erzähl mal!“ Dann nahm ich einen kräftigen Schluck und lehnte mich erneut in den Sessel zurück. „Ja“, sagte er, „ ein bisschen hast du ja schon gesehen, wie ich lebe. Und das ist kein Zufall sondern eine bewusste Entscheidung. Mir ist das Spirituelle wichtiger als das Materielle!“ Ich schaute ihn erstaunt an: „Wie meinst du das?“
    Nach einer weiteren halben Stunde hatte ich sein spirituelles Lebenskonzept halbwegs verstanden. Es basierte auf der Annahme, dass der Mensch in erster Linie ein geistiges Wesen (Seele) und der Körper nur dessen Behausung sei. Und diese Seele immer wieder in neue Körper hineingeboren würde. „Die Buddhisten nennen dies Reinkarnation oder Wiedergeburt!“ erklärte er.
    „Ja, und wie lange soll das mit den Wiedergeburten so gehen?“ fragte ich etwas skeptisch nach. „Bis zur Erleuchtung! Wenn die Seele sich bis zur Vollkommenheit entwickelt hat, folgt die Erleuchtung. Und dann wird man nicht mehr wiedergeboren, sondern geht in das Nirwana ein!“ Er lächelte: „Aber das kann dauern! Manchmal mehrere tausend Inkarnationen! Der Weg ist das Ziel!“

Das klang natürlich alles recht abenteuerlich. Aber warum sollte es nicht so sein? Auf jeden Fall eine angenehmere Vorstellung als die, dass nach dem irdischen Tode alles vorbei ist. Er fuhr fort: „Ich konzentriere mich hauptsächlich auf meine geistige Weiterentwicklung, deshalb meine asketische Lebensweise. Ich will mich nicht zu sehr durch materielle Dinge ablenken lassen!“
    "Bist du ein Buddhist?", fragte ich ihn. Er überlegte kurz und entgegnete dann: "Nein, eigentlich  nicht. Ich würde mich eher als einen Esoteriker bezeichnen." Erneut schaute ich ihn erstaunt an. "Ein Esoteriker? Was ist denn das?"
"Esoterik", sagte er, "heißt geheimes Wissen. Ein Esoteriker ist also jemand, der geheimes Wissen besitzt." Und dann erzählte er mir noch von seiner Beschäftigung mit der Astrologie und den Tarotkarten. Und davon, dass nun das „Wassermannzeitalter“ (New Age) angebrochen und es vorherbestimmt sei, dass das Interesse an den esoterischen Dingen allgemein zunehmen würde.
 
Natürlich verstand ich nicht Alles, was er mir an diesem Abend erzählte. Aber meine Neugier und mein Interesse war geweckt. Konnte es nicht sein, dass die Sterne unseren Charakter und unser Schicksal tatsächlich beeinflussten? Und man dem Rat der Tarotkarten bei Lebensfragen und Entscheidungen vielleicht vertrauen konnte? Und warum sollten wir nicht Seelen sein, die immer wieder neu in andere Körper hineingeboren wurden und sich neu zu bewähren hatten?
   Als ich mich nach Mitternacht von Michael verabschiedete und mich auf meinen Heimweg begab, spürte ich eine neue Hoffnung in mir. War dies jetzt der Zufall gewesen, auf den ich insgeheim gewartet hatte ? Ich blickte hinauf in den winterlichen Sternenhimmel. Konnte es wirklich sein, dass unser Schicksal von dort bestimmt und beeinflusst wurde?
    Ich war mir nicht sicher. Aber es hatte sich unerwartet eine „neue Tür“ aufgetan und ich war entschlossen, durch sie hindurch zu gehen.es schien  mir einen Versuch wert. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass ich in eine Falle getappt war?

Donnerstag, 26. Februar 2015

Das Namensschild am Gartentor

Etwa eine Woche später war ich, entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit, zu Fuß unterwegs. Ich hatte mich noch nicht allzu weit von meiner Wohnung entfernt, als ich an einem  kleinen „Hexenhäuschen“ vorbeikam.     
    Aus irgendeinem unerfindlichen Grund blieb ich an der Gartenpforte stehen und blickte durch den leicht verwilderten Vorgarten hinüber zu dem Häuschen mit dem verwitterten Dach. Eine schwarze Katze schaute mich fragend an, drehte sich dann aber weg und verschwand dann unter einem großen Nadelbaum.
    Gerade wollte ich schon wieder losgehen, als mein Blick auf das kleine Namensschild am Zaun fiel: M.Borke.  Ich stutzte, denn ich hatte einige Jahre zuvor  mit einem Michael Borke an einer Schach-Hochschulmeisterschaft teilgenommen. Wohnt der vielleicht hier? Das wäre ja ein Ding! Da wären wir ja quasi seit fast einem Jahr „Nachbarn“, ohne etwas davon gemerkt zu haben.
    Schon wollte ich den Klingelknopf drücken, als mir plötzlich Bedenken kamen: Vielleicht wohnt hier ja doch jemand Anderes. Das wäre dann doch etwas peinlich! Ich entschied die Sache dem Zufall zu überlassen. Wenn er wirklich hier wohnte, würden wir uns früher oder später schon über den Weg laufen. Ich blickte noch einmal zu dem Häuschen hinüber und setzte dann meinen Weg fort.

Eine Woche später, an einem regnerischen Wintertag, stieg ich in einen Bus in Richtung Innenstadt. Wie es der Zufall - oder das Schicksal - so wollte, stieg an der nächsten Haltestelle Michael Borke ein. Er ging aber an mir vorbei ohne mich allerdings wahrzunehmen. Erst als ich aufstand und zu ihm hinging, erkannte er mich.
   Er schien sehr erstaunt über unserer Wiedersehen und erzählte mir, dass er normalerweise immer mit dem Rad unterwegs wäre. „Das ist hier eine absolute Ausnahme. Mein Fahrrad ist defekt und ich muss wegen eines Ersatzteils in die Stadt“. 
    "Ja," entgegnete ich, "eigentlich bin ich auch ein überzeugter Fahrradfahrer. Aber bei diesem Sauwetter hatte ich einfach keine Lust auf`s Rad!"
Wie sich herausstellte wohnte er tatsächlich in jenem kleinen Hexenhäuschen. Als ich ihm erzählte, dass wir fast Nachbarn wären, meinte er spontan: „Na, dann wird es aber Zeit, dass du mich mal besuchen kommst!“ „Abgemacht“, sagte ich, „ich schaue demnächst mal bei dir rein!“
    Wir unterhielten uns noch eine Weile angeregt über dies und jenes, dann war mein Zielort erreicht. Als ich mich in Richtung Ausstieg bewegte, rief er mir nach: „Aber den Besuch nicht vergessen. Du bist jederzeit herzlich willkommen!“

Mittwoch, 25. Februar 2015

Ein Monat mit Hermann Hesse

Am Neujahrstag des Jahres 1985 begann ich mit meiner Auszeit ohne mir einen genaueren Plan gemacht zu haben. Aber es stellte sich recht schnell heraus, dass ich nicht nur herumsitzen, Kaffee oder Tee trinken und nachdenken konnte. Und so griff ich mir aus einer Hesse-Gesamtausgabe „Unterm Rad“ heraus und begann darin zu lesen.
     Nach einigen Tagen hatte sich dann so etwas wie eine Tagesstruktur herausgebildet. Vormittags las ich in einem Hessebuch, nachmittags ging ich in der näheren Umgebung spazieren und las danach weiter bis zum frühen Abend weiter. Später abends begann ich dann bei gefälliger Hintergrundmusik  nachzudenken.

Einem Einzelgänger wie mir fiel dieses „Eremitentum auf Zeit“ nicht sonderlich schwer. In gewisser Weise genoss ich es sogar, zumal sich die Hesselektüre als eine gute Wahl erwies. Es handelte sich bei seinen Romanfiguren oft um Außenseiter auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und ihrem Platz in der Welt. Was in gewisser Weise ja auch auf mich selber auch zutraf.
  
Was mir weniger gut gefiel, war das häufige Scheitern seiner Helden und die damit verbundene „Botschaft“ Hesses: „Erwarte nicht zu viel vom Leben. Sei bescheiden, beherrsche deine Wünsche und Sehnsüchte, und führe ein mehr oder weniger maßvolles, asketisches Leben! Dann wirst du vielleicht eines Tages ein einigermaßen zufriedener Mensch werden!"
   Ein asketisches Leben führen und dann bestenfalls ein wenig Zufriedenheit? Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich wollte ein erfülltes, glückliches Leben leben! Mit weniger als das wollte ich mich nicht zufrieden geben. Gleichzeitig nagte aber der Zweifel an mir. Vielleicht hatte Hesse ja recht und meine Suche würde vergebens sein.
 
Vergebens? Ich fühlte einen kleinen Anflug von Angst. Ein Leben ohne Glück?  Der Gedanke war wirklich schwer zu ertragen. "Ich muss es versuchen!" sagte ich zu mir. "Selbst auf die Gefahr hin, dass ich das Glück niemals finden werde!"

Nach etwa vier Wochen beendete ich meine Auszeit. Sie hatte zwar  zu keinem verwertbaren Ergebnis geführt, aber mir klar gemacht, dass ich mich nicht mit einem normalen, langweiligen Leben zufrieden geben wollte. „Ich werde mich jetzt neu ins Leben verstricken und vielleicht kommt mir ja der Zufall zu Hilfe!“, ermutigte ich mich selbst.